Ernst Hermann Scheer

Am Dessauer Ufer verstarb der Bootsbauer Ernst Hermann Scheer. Ernst Scheer war als sogenannter Berufsverbrecher im KZ inhaftiert. Aus verschiedenen Gründen ist nur bruchstückartiges über ihn bekannt. Wer in der Haftzeit in einem Konzentrationslager verstarb, kann selbst kein Zeugnis mehr ablegen. Das Andenken können nur Dritte weitertragen, beispielsweise überlebende Familienmitglieder oder Freund_innen. Von Ernst Scheer gibt es nur die Informationen zu seinem Tod sowie Akten, die sich im Hamburger Staatsarchiv befinden und ihn als vermeintlichen Kriminellen kennzeichnen. Trotzdem soll hier der Versuch gemacht werden, aus diesen Dokumenten eine Lebensgeschichte zu erzählen. Damit soll stellvertretend den Menschen gedacht werden, die lange nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus galten.

Die SS teilten die Häftlinge in den Konzentrationslagern je nach vermeintlichem Haftgrund in Gruppen ein. Diese wurden mit unterschiedlich farbigen Winkeln auf der Kleidung der Häftlinge gekennzeichnet. Ebenso gekennzeichnet wurde die nationale Zugehörigkeit. Die Kennzeichnung der ‚Haftkategorie‘ auf der Kleidung erfolgte auch deshalb, um Häftlinge gegeneinander auszuspielen und so eine innere Hierarchie im Lager zu etablieren. Abwertungen aufgrund der von der SS zugeschriebenen Häftlingsgruppe gab es auch noch lange nach 1945. Sogenannte Berufsverbrecher, wie auch die Gruppe der sogenannten Asozialen wurden erst 2020 vom Deutschen Bundestag als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

Ernst Hermann Scheer wurde am 21.09.1909 als Sohn des Kohlenarbeiters Ernst Karl Scheer und Anna Scheer, geb. Kühnstedt, in Hamburg geboren. Nach dem Tod ihres Vaters, der 1919 aufgrund einer Kriegsverletzung verstarb, lebten Ernst Scheer und sein Bruder Karl weiterhin bei ihrer Mutter. Karl Scheer arbeitete, wie sein Vater, als Kohlenarbeiter und auch Anna Scheer musste als Reinigungskraft arbeiten, um die Kriegshinterbliebenenrente aufzustocken.

Ernst Scheer besuchte die erste Klasse der Volksschule, woran er eine Lehre zum Bootsbauer anschloss. Er erkrankte im Laufe der Lehre und verbrachte mehrere Monate im Krankenhaus Eppendorf, wo er mehrfach an der Lunge operiert werden musste. Trotz der widrigen Umstände schloss Ernst Scheer seine Lehre 1929 mit guten Beurteilungen ab. Anschließend war er bis August 1934 mehrmals kurzzeitig angestellt, so als Schiffsjunge und Zimmermann auf einem Schiff, als Bootsbauer in der Schweiz und bei der Polizei Wassersport-Abteilung Hamburg. 1

Ernst Scheer war bereits 1933 für mehrere Monate in sogenannter Schutzhaft.2; Nach der Machtübergabe an die NSDAP 1933 wurden vor allem politische Gegner_innen sowie Zeugen Jehovas ohne weitere Verurteilung in sogenannte Schutzhaft genommen. Mit dem Instrument der „Schutzhaft“ sollte die politische Opposition zerschlagen werden. Schutzhäftlinge in den frühen Jahren der NS-Zeit waren einem hohen Maß an körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt. Weshalb Ernst Scheer 1933 inhaftiert wurde, geht aus den vorhandenen Dokumenten nicht hervor.

1935 wurde Ernst Scheer wegen mehrerer Einbruchsdelikte zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, die er bis 1940 verbüßte.

Im Jahr 1941 beendete Ernst Scheer eine Beschäftigung als Packer. Er versuchte nun über das Handeln mit Waren, die er auf dem Schwarzmarkt verkaufte, Geld zu verdienen, um aus Hamburg wegzuziehen und sich eine neue Existenz aufzubauen.

Im Oktober 1942 wurde er erneut verhaftet und zunächst in polizeiliche ‚Vorbeugehaft‘ im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel genommen.3 Zu diesem Zeitpunkt war Erst Scheer bereits mehrmals zu geringen Strafen verurteilt worden. Einen Monat später wurde er – immer noch mit dem Status eines ‚Vorbeugehäftlings‘ – ins KZ Neuengamme überstellt.

Die ‚Schutzhaft‘ und die ‚Vorbeugehaft‘ gehörten zu den schärfsten Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes. Wurden Menschen mehrmals verurteilt, konnten sie ohne weitere Verhandlungen als ‚Berufsverbrecher‘ oder ‚Gewohnheitsverbrecher‘ eingestuft und in polizeiliche Schutzhaft überführt werden, obwohl sie die Strafe, die auf die begangenen Taten stand, bereits verbüßt hatten. Laut der nationalsozialistischen Ideologie gab es bei diesen Menschen eine genetisch bedingte Neigung zu kriminellen Taten. Die ‚Kriminalbiologie‘ entstand im Kaiserreich und der Weimarer Republik, wurde aber im Nationalismus zu einem eigenen Wissenschaftszweig ausgeformt. Betroffen waren oftmals Menschen, die aus Armut und wirtschaftlichen Zwängen heraus kleinere Verbrechen wie Diebstähle oder Betrug begangen hatten. Sie wurden meist in Konzentrationslager überstellt, was für viele von ihnen den Tod bedeutete.

Anfang 1943 wurde Ernst Scheer, der sich zu diesem Zeitpunkt immer noch im KZ Neuengamme befand, zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, illegal mit Waren gehandelt zu haben, die nur mit Bezugskarten erhältlich waren. Aufgrund der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, wurde er direkt aus dem KZ Neuengamme in das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht. Nach Verbüßen seiner Haftstrafe wurde er allerdings nicht freigelassen, sondern direkt wieder an das KZ Neuengamme überstellt. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Belege mehr zum Leben Ernst Scheers. Es ist lediglich bekannt, dass er im Oktober 1944 im KZ-Außenlager Dessauer Ufer verstarb. Im Totenbuch des KZ Neuengamme, in dem die verstorbenen Häftlinge des Konzentrationslagers dokumentiert wurden, findet sich der Eintrag, er sei ertrunken.4 Auch die Standesamtsurkunde besagt, er sei auf der Flucht ertrunken. Dies ist denkbar, allerdings basieren diese Informationen auf Dokumenten, die die SS ausgestellt hat. Da die SS oft versuchte, von ihr begangene Verbrechen, die zu dem Tod der Häftlinge führten, sprachlich zu verwischen, ist der Aussagewert dieser Dokumente zweifelhaft.

Viele Fragen zu dem Leben Ernst Scheers müssen aufgrund der oben beschriebenen Aktenlage leider offenbleiben.

1 Die Daten zu dem Lebenslauf stammen aus StAHH 213/11-5848.
2 Ebd
3 Informationen dieses Absatzes aus: StAHH 213/11-69808.
4 ANg, Krankenrevier-Totenbuch Außenlager II.